Mit diesen Anekdoten und Insidertipps kannst du beim nächsten Besuch deiner Eltern den obligatorischen Stadtrundgang aufpeppen.
In einer WG, in einem Einzelapartment, noch bei Mutti, ohne Balkon, mit Spülmaschine, im Keller, im Wohnheim, mit Garten, in der Innenstadt, in Weende, dem Ostviertel oder der Südstadt. Für Studierende in Göttingen gibt es viele Arten zu wohnen. Doch eine war bis 2001 besonders: Die Studi-Wohnung im Nordturm der Johanniskirche. Unter der Adresse Johanniskirchhof 1 wohnten dort achtzig Jahre lang Göttinger Studenten.
„Türmerwohnung“, so werden die Wohnräume im Nordturm von St. Johannis noch heute genannt. Bis 1921 wachten von dort, 65 Meter beziehungsweise 238 Stufen über dem Erdboden, Göttingens Turmwächter über die Stadt. Dann übernahmen die Studenten (und ja, es waren wirklich nur Männer).
„Zu Besuch kamen alle gerne. Nur wohnen wollten sie dort nicht“, lacht Jürgen Bartz. „Ich glaube, ich habe nie so viel Besuch gehabt, wie in dieser Zeit.“ Zusammen mit seinem Mitbewohner war er 2001 der letzte Student, der in der Türmerwohnung lebte, bevor sie für Renovierungsarbeiten geräumt werden musste. Das Jahrhunderte alte Gebälk überall in der Wohnung sichtbar, unter den Farb- und Tapetenschichten an den Wänden noch Zeitungen vom Anfang 1900. „Wohnen in Geschichte“ war es für Bartz. Und davon hat die Türmerwohnung allein in ihrer studentischen Zeit viel gesehen. Nach den Turmwächtern zogen zunächst die Burschenschaftler der „Deutsch-Akademischen Gilde“ ein, später die Mitglieder der „Hochschulgilde Niblung“, bevor 1937 die SS die Türmerwohnung für sich entdeckte und die Burschis zum Auszug drängte. Auch nach dem Krieg kehrten die Studentenverbindungen nicht zurück in den Johanniskirchturm. Bewohner waren in den folgenden Jahrzehnten unter anderem die Jugendbewegung „Akademische Freischar“, Stipendiaten des evangelischen Studienwerks Villigst und schließlich Jürgen Bartz. Was ihn damals besonders an der Wohnung gefallen hat? „Das Gefühl, an einem ganz besonderen Ort zu sein. Mit einem besonderen Charme und einer besonderen Ästhetik“, erzählt Bartz. „Auf dem Balkon zu sitzen und die ganze Stadt zu überblicken…“
Doch nicht nur durch die Lage und die Geschichte wurde das Wohnen in der Türmerwohnung zu etwas Besonderem: Wie die Studenten vor ihnen, haben Bartz und sein Mitbewohner mietfrei gewohnt. Als Gegenleistung mussten sie immer samstags ihre Wohnung für Besucher und Touristen öffnen. Jeweils die Hälfte der Eintrittsgelder gingen dabei an die Bewohner der Türmerwohnung. „Wohnen mit Einnahmen“, nennt es Bartz. Als lästig hat er die samstäglichen Besuche nicht empfunden: „Es hat immer Spaß gemacht, mit Leuten in Kontakt zu sein. Man hat viele nette Gespräche geführt, auch mit internationalen Besuchern.“ Freien Eintritt erhielten diejenigen, die einen der 10-Liter-Wasserkanister den Turm hochgetragen haben. „Wenn wir mal kein Geld hatten, haben wir das Wasser selber getragen“, erzählt Bartz und grinst.
Egal ob so oder so, die Kannister musste oben ankommen: Bis zum Ende der Nutzung als Studiwohnung gab es auf dem Kirchturm kein fließendes Wasser. Toilettengänge und Duscheinheiten wurden im Gemeindehaus verrichtet. Für Bartz war das nach kurzer Zeit kein Problem mehr: „Man gewöhnt sich recht schnell daran. Irgendwann wird es zur Selbstverständlichkeit.“
2001 kam das Wohnen über den Dächern der Stadt jedoch zu einem jähen Ende: Die Türme waren stark sanierungsbedürftig. Die Bewohner des Nordturms mussten die Johanniskirche verlassen. „Sehr tragisch,“ beschreibt Bartz heute seinen Auszug. 2005 mussten er und die Johannisgemeinde einen weiteren Schlag hinnehmen: Während der Sarnierungsarbeiten ist der Turm durch Brandstiftung in Flammen aufgegangen. Bartz lebte zu der Zeit schon wieder einige Jahre näher am Göttinger Erdboden. „Noch bevor die Feuerwehr da war, hat ein Freund mich angerufen und gesagt ‚Deine Wohnung brennt‘“.
Seit einigen Jahren kann man die Türmerwohnung nun wieder besichtigen. Auch Bartz hat seinen Turm seitdem wieder besucht, doch wie früher sei es dort nicht mehr. „Es ist heute ein besinnlicher Ort, aber die Wohnung hat ihren historischen Charme verloren. Die Geschichte ist nicht mehr nachfühlbar.“
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