Während meine Gebärdensprachkenntnisse mit der Zeit mehr und mehr verschleißen, feilt Rieke während ihres Studiums immer weiter daran. Rieke Giese studiert mit mir im Master Komparatistik und beschäftigt sich seit ihrem zweiten Bachelorsemester mit der Deutschen Gebärdensprache, kurz DGS, und ist immer noch fasziniert davon: „Die Ausdrucksmöglichkeiten dieser Sprache sind so vielfältig, so anders.“ Dann wurde im letzten Sommersemester ein Seminar angeboten, das zu ihr passte, wie kein anderes: Das Projektseminar „Die Lebensgeschichte von Gehörlosen der Nachkriegsgeneration. Eine Ausstellung“. Das Seminar ist Teil des Programms „Forschungsorientiertes Lehren und Lernen“, kurz FoLL, der Uni Göttingen, das Studis die Möglichkeit gibt, während des Studiums praxisnah zu forschen. Rieke ist eine der 14 Studierenden, die in disem Rahmen für zwei Semester eine Ausstellung erarbeitet. Das Ziel ist es, die Erfahrungen und Erlebnisse von gehörlosen SeniorInnen aus der Nachkriegszeit zu dokumentieren, zu archivieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein Projekt, das bisher in Deutschland einmalig und dabei von großer Bedeutung ist, wie die Seminarleiterin Dr. Jana Hosemann betont: „Wenn man jetzt nicht die Lebensgeschichten von den SeniorInnen aufnimmt, dann geht dieses kulturelle Wissen verloren. Irgendwann gibt es niemanden mehr, der davon berichten kann.“
Im Sommersemester ging es im Projekt vor allem theoretisch zu. Zuerst sollten alle TeilnehmerInnen auf einen gemeinsamen allgemeinen Wissensstand gebracht werden. Im Anschluss machten sie die ersten Schritte zur Ausstellungskonzeption. „Wir haben überlegt wie wir eine Ausstellung aufbauen wollen. Was man ausstellen könnte und wie man Themenbereiche eingrenzen und einteilen kann“, erzählt Rieke. Die Studierenden haben sich schließlich in sieben verschiedene Bereiche aufgeteilt, die sie in der Ausstellung zeigen wollen, wie zum Beispiel ‚Bildung‘ oder ‚das Familienbild in der Nachkriegszeit‘. „Ich habe mit zwei anderen KommilitonInnen das Berufsbild von Gehörlosen angeschaut“, sagt Rieke. Die sieben Gruppen haben sich dafür Interviewvideos mit gehörlosen SeniorInnen angesehen, die über ihr Leben in der Nachkriegszeit erzählen. Um alles verstehen zu können, brauchten die Studis schone erste DGS-Erfahrungen. Eigentlich hat Rieke schon reichlich davon, doch auch sie strauchelte manchmal, da das Sprachniveau der Videos ziemlich hoch war. Zum Glück gab es immer noch Protokolle zu den Videos und natürlich die DozentInnen, die die Studis tatkräftig unterstützt haben.
Während des ganzen Semesters herrschte dabei eine gute Gruppenarbeitsatmosphäre. Ab und an gab es natürlich auch Plenumsphasen, um den aktuellen Stand zu diskutieren. Die Studierenden waren in ihrer Arbeit sehr frei, was Rieke gut gefällt: „Es war sehr cool, dass uns nicht so viel vorgegeben wurde, sondern, dass wir uns das selbst erarbeitet haben.“ Auch Jana Hosemann schätzt die besondere Atmosphäre des Seminars: „Das ist kein Seminar, wo wir dozieren und unser Wissen vermitteln, sondern ein Kooperieren mit den Studierenden, um sich gemeinsam Wissen und die Umsetzung zu erarbeiten und in die Tiefe zu recherchieren.“
Im Wintersemester wird dann gebaut, konzipiert und geworben. Es gehe nun darum, Sponsoren zu finden, Werbung zu machen und sich einen Aufbau zu überlegen, der zum Ausstellungsort KWZ passt, sagt Rieke. „Meine Aufgabe ist dann das Design der Ausstellung.“ Dazu gehört der Aufbau der Ausstellung, das Anordnen der Ausstellungsstücke und die Route, die die BesucherInnen durch Lebensgeschichten-Ausstellung führt. Gedanklich hat Rieke die Ausstellung schon grob konzipiert: „Es soll keine Ausstellung werden, die nur mit Plakaten funktioniert. Das ist meistens langweilig und das lesen sich die Wenigsten durch.“ Das Mittel gegen aufkeimende Langeweile haben die Studierenden schon parat: „Wir würden gerne ein paar Objekte als Eye-Catcher haben, Hands-On-Objekte, wie wir gelernt haben“, lacht Rieke. Damit sind Ausstellungsstücke gemeint, bei denen die BesucherInnen etwas aufziehen oder aufklappen, also selbst „Hand anlegen“, können. Die Ausstellung startet im Januar 2019 und läuft dann bis Februar im KWZ. Danach ist eine Wanderausstellung mit Stationen wie Berlin und Hamburg geplant.
Diese Greifbarkeit des FoLL-Projekts war es, die Rieke zu Wahl dieses Seminars motiviert hat: „Wir haben ein konkretes Ziel. Wir wollen etwas erstellen.“ Auch Jana Hosemann ist sehr zufrieden mit dem Verlauf des Seminars: „Ich bin sehr begeistert, mit wie viel Einsatz und Enthusiasmus die Studierenden dabei sind.“ Ich bin schon gespannt, was mich im Januar im KWZ erwartet. Ich möchte viel aufklappen, aufziehen, natürlich meine DGS-Kenntnisse wiederauffrischen und das „Konkrete“ sehen, wovon Rieke gesprochen hat. Vielleicht bekomme ich ja eine Führung durch die Lebensgeschichten-Ausstellung von ihr.
Wenn ihr euch Riekes Projekt und viele weitere FoLL-Ergebnisse anschauen wollt, dann kommt doch am heute um 18 Uhr bei der FoLL-Präsentation in der Alten Mensa vorbei!