Mein Lebenslauf – im Hinterkopf ist er immer mit dabei. Zum Beispiel, wenn ich überlege ein Erasmus-Semester in Italien zu machen, obwohl ich doch eigentlich gerade Russisch lerne. Kommt das nicht total orientierungslos rüber? Oder wenn ich einen Nebenjob entdecke, der nichts mit meinem Studium zu tun hat. „Bei dem würde ich ja gar keine relevante Arbeitserfahrung sammeln“, hake ich ihn schnell ab. Ja, da ist immer der Gedanke, ob das, was ich tue, mir hilft, meine Ziele zu erreichen. Eigentlich will ich so nicht denken. Eigentlich will ich spontan sein und genau das machen, worauf ich im Moment Lust habe – auch wenn es allem widersprechen sollte, was ich bisher getan hab. Ich glaube, so geht es nicht nur mir. Viele stecken in diesem Hamsterrad.
Da tut es gut, jemanden zu treffen, dem der gradlinige Lebenslauf egal zu sein scheint. Der das tut, wonach ihm ist, auch wenn das bedeutet, nochmal völlig neu anzufangen oder plötzlich ganz andere Prioritäten zu setzen. Der im Leben mehrmals in entgegengesetzte Richtungen abgebogen ist und der keine Angst hat, etwas verpasst zu haben. Der zufrieden im Hier und Jetzt zu sein scheint. Na gut, ganz ohne jede Zukunftsplanung kommt selbst Steffen Lehmker nicht aus. Der 29-jährige Student betreibt Biathlon als Leistungssport. Und das, was er als nächstes vorhat, bedarf einer gewissen Vorbereitungszeit: Die Weltmeisterschaft 2019 in Kanada und die Olympischen Winterspiele 2022 in Peking.
In die Welt des Leistungssports ist Steffen jedoch eher zufällig hineingeschlittert – nicht, wie man annehmen könnte, durch ehrgeiziges Training seit Kindertagen. Sport hat er schon immer gerne gemacht: Er hat Fußball gespielt und ist Marathons gelaufen – der Anstoß zu seiner Biathlonkarriere kam aber erst vor vier Jahren im Skiurlaub mit seiner Familie. Im Fernsehen liefen die Winter-Paralympics in Sotschi. Steffens Bruder meinte halb im Spaß, halb im Ernst: „Da kannst du nächstes Mal ja auch dabei sein!“– Steffens linker Arm ist seit seiner Geburt gelähmt. Aus diesem einen Satz im Skiurlaub wurde im Januar 2018 eine Bronzemedaille in der Langlauf Mixed Staffel bei den Paralympics in Pyeongchang. Steffen hatte sich nach dem Skiurlaub kurzerhand beim Nachwuchstrainer des Deutschen Behindertensportverbands gemeldet und einen Nachwuchslehrgang absolviert. Seitdem trainiert er zwei bis dreimal die Woche im Harz, im Sommer auf sogenannten Skirollern.
So wenig absehbar seine Sportlerkarriere war, so wenig war es sein Studium. Nach dem Abi bot sich ihm nämlich erstmal die Chance mit seiner damaligen Band „DenManTau“, in der er Schlagzeug spielte, nach Amerika zu gehen. Mittlerweile hat die Band ihren Lebensmittelpunkt in Los Angelos, spielt in Clubs und auf Festivals. Steffen hat sich damals entschieden, in Deutschland zu bleiben. Ihm war das Musikerleben zu unsicher. Stattdessen schlug er den denkbar gegensätzlichsten Weg ein und begann eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Gleich im ersten Jahr merkte er, dass das nicht der Beruf fürs Leben sein würde. Trotzdem zog er die Ausbildung durch. Dabei entdeckte er in der Berufsschule einerseits sein Interesse an Wirtschaftsthemen, andererseits ließ er sich von der Begeisterung anstecken, mit der seine Lehrer ihren Job machten. Jetzt wird er selbst Berufsschullehrer für Wirtschaft und Sport und steckt im letzten Master-Semester, kommt nur noch einmal die Woche für ein Seminar nach Göttingen und erledigt den Rest zu Hause in Wolfsburg. Auch im Bachelor hat er nicht in Göttingen gewohnt, sondern in Hannover. „Vom Studentenleben habe ich nicht viel mitgekriegt“, gibt er zu. „Ich war vielleicht auf einer ZHG-Party.“ Stattdessen hat er sich danach gerichtet, wo seine langjährige Freundin, und mittlerweile Ehefrau, lebt, studiert und arbeitet. Wie sich Leistungssport, Beruf, und irgendwann auch Familie, vereinbaren lassen, will Steffen dann „von Jahr zu Jahr“ sehen. Und da ist er wieder, dieser gelassene Blick auf die Zukunft, von dem ich mir jetzt mal eine Scheibe abschneide.