Mein Helm ist fest auf den Kopf geschnallt. Die Stützräder sind abmontiert. Die Tigerenten-Fahrrad-Flagge zittert angespannt im Wind. Es ist Mitte der 90er und mein fünfjähriges Ich steht kurz davor, seine ersten Meter ohne Hilfsmittel auf dem Fahrrad zu fahren (und, let’s be honest, den ersten richtigen Sturz zu erleben). Knapp 20 Jahre später ist Fahrrad fahren ein elementarer Teil meines Alltags – nicht zuletzt durch mein Leben in Göttingen. Doch was ich in den örtlichen Fahrradlawinen schnell mal vergesse: Auch in Göttingen gibt es Studis, die nicht Fahrrad fahren können.
„Es macht mir Angst, dass da auch Leute rumlaufen“, gibt Paola zu. Es ist ein sonniger Freitagnachmittag und ich besuche den InDiGU Cycling Course am Hochschulsport. Gleich steht eine kleine Tour an: die eingegrenzte Betonfläche verlassen und einmal über das Gelände, Fußgänger und andere Hindernisse inklusive. In ihrem bisherigen Leben ist Paola ohne ein Fahrrad ausgekommen: Aufgewachsen in einer Großstadt; Schule, Uni, Kneipen immer fußläufig erreichbar. Jetzt studiert sie in ihrem ersten Mastersemester in Göttingen und musste einsehen: Hier ist das Fahrrad ganz schön praktisch.
Das Teilnehmerfeld des Kurses umfasst Studierende aus der ganzen Welt. Die meisten kommen aus Metropolen, wie Paola, in denen man gar keinen Gedanken daran verschwendet, Fahrrad fahren zu lernen (und sich quasi wissentlich in Lebensgefahr zu bringen) oder einfach kein Fahrrad benötigt. Es kommt aber auch vor, dass es Teilnehmerinnen in ihrem Herkunftsland schlicht verboten war Fahrrad zu fahren.
Yasaman, seit April in Göttingen, hat es zwar als Kind gelernt, doch dank einigen fahrradlosen-Jahren genügend Zeit gehabt, wieder aus der Übung zu kommen. Seit ihrem ersten Besuch in Göttingen war der PhD-Studentin klar, dass es wieder Zeit ist, sich in den Sattel zu schwingen: „Es ist einfach sehr effizient, mit dem Fahrrad zur Uni zu fahren.“
Den Anstoß zu den Fahrrad-Kursen hat ein internationaler Student gegeben: Göttinger Freunde hatten ihn zu einer Fahrradtour zum Badesee eingeladen, doch er musste absagen. Durch ihn wurde InDiGU aufmerksam. Der erste Cycling Course wurde im Sommersemester 2014 angeboten, zunächst finanziert aus Mitteln des Ideenwettbewerbs. Neun Kurse hat InDiGU seitdem veranstaltet. Die Nachfrage ist weiterhin groß.
Die Fahrradkurse sind jedoch nur eine Nebenbeschäftigung für das Programm „Integration & Diversity at Göttingen University“. InDiGU widmet sich vor allem dem internationalen Austausch zwischen Studierenden durch Fach- und Schreibpartnerschaften und bietet Weiterbildungsmöglichkeiten im Hinblick auf eine internationale Karriere. Über allem schwebt das Zertifikat „Interkulturelle Kompetenz“, in dessen Rahmen sich TeilnehmerInnen unter anderem interkulturell sensibilisieren und schulen lassen können. Auch freiwillige und ehrenamtliche Arbeit in internationalen Gruppen an der Universität kann eingebracht werden.
Für die Fahrradschülerinnen ist das alles gerade eher uninteressant. Ihnen geht’s jetzt ums Gleichgewicht halten. „Das ist jetzt die zweite Hälfte des Kurses. Dafür läuft es schon gut“, erzählt mir Regine Preuß vom ADFC und beobachtet ihre Schülerinnen, die auf dem Betonplatz ihre Kreise drehen. Preußig verteilt Hindernisse auf der Fläche, die die Kursteilnehmerinnen umkurven oder überfahren sollen. Angefangen hat die Gruppe in ihrer ersten Stunde auf Tretrollern für Erwachsene. „Damit ist die Hemmschwelle niedriger“, erklärt Preuß. Der Umstieg aufs Fahrrad kam in der zweiten Sitzung vor zwei Wochen. Ab heute gehe es „ums verfeinern und sicher werden.“ Und dann heißt es: Helm festschnallen und auf geht’s – Göttingen hat neue Fahrradfahrerinnen dazu gewonnen.
Hier findet ihr weitere Infos den Themen Fahrradkurse, InDiGU und Zertifikatsprogramm Interkulturelle Kompetenz.