Drag hat mich fasziniert, seitdem ich in einem Urlaub zufällig auf einer kostenlosen Show der Drag Queen Taylor Mac im New Yorker Prospect Park landete. Ich liebte alles daran: die opulenten Kleider, den Glitzer, die lässige Witzigkeit der Moderation, die das Publikum immer ein bisschen bloßstellte, ohne je unangenehm zu werden, das pompöse Finale, bei dem Taylor Mac zu den Klängen von Joy Divisions „Love Will Tear Us Apart“ alle dazu aufforderte, ihre Nachbar:innen in die Arme zu schließen und Liebe zu verteilen. Ich war begeistert von der Zwanglosigkeit, mit der die ganze Performance mit angestaubten Geschlechterkategorien und altbackenen heteronormativen Vorstellungen von Liebe umging. Natürlich war mir Drag vorher nicht gänzlich unbekannt: Ich kannte Olivia Jones, nur ein Jahr zuvor hatte Conchita Wurst den ESC gewonnen und in einem Seminar (ich hatte damals gerade das zweite Semester hinter mich gebracht) hatte es mal eine Diskussion um Drag gegeben, bei der der Name Judith Butler fiel und ich sonst nicht viel verstand. Aber bei der Show hatte ich zum ersten Mal das Gefühl zu verstehen, worum es bei Drag als Kunstform wirklich ging.
Nicht lange danach entdeckte ich RuPaul’s Drag Race, eine Casting Show für Drag Queens, entwickelt von der US-amerikanischen Drag Queen RuPaul. Die erste Folge schaute ich in irritiertem Staunen im Angesicht der herzlichen Zickigkeit der Queens, ihres aufwendigen Make-Ups, ihres Talents im Singen, Tanzen und Stand-Up und der hohen Anzahl an Referenzen zu Popkultur, queeren Ikonen und Drag Race selbst, von denen ich nur einen Bruchteil verstand. Und obwohl ich überhaupt keine Ahnung hatte, was vor sich ging, hatte die Show einen seltsamen Reiz, sodass ich weiterguckte.
Die Göttinger Drag Queen Renelopé Fauxwell weiß diesen Reiz besser zu beschreiben als ich: „Die Leute mögen Drag Queens“, sagt sie im Skype-Interview, das ich mit ihr führe, um mehr über die Drag-Szene in Göttingen zu erfahren. Sie seien bunte, schillernde Personen ohne negative Assoziationen, von denen man nichts zu befürchten habe. Ich verstehe, was sie meint: Drag hat etwas Gutherziges, es geht um Spaß, darum, Geschlechterrollen auf humorvolle Weise zu untergraben. Drag ist bunt, laut und lustig, mit viel Glitter und Party-Zubehör.
Drag bedeutet erst einmal ganz einfach, sich als ein anderes Geschlecht zu verkleiden, wobei häufig mit Stereotypen gespielt wird. Die meisten Drag-Performer:innen sind Drag Queens, also Männer, die sich als Frauen verkleiden, jedoch gibt es auch Drag Kings, das exakte Gegenteil. Inzwischen hat sich Drag als Kultur so weit entwickelt, dass es auch Queens gibt, deren Performance sich völlig von Geschlechterkategorien lossagt und mehr Kunst als Kostüm ist. Eine Drag Queen hat üblicherweise eine Persona, die auf der Bühne performt, meistens mit dem weiblichen Singular-Pronomen „sie“ (oder anderen nicht-binären Alternativen) bezeichnet wird und häufig einen extravaganten Namen trägt. Woher der Begriff „Drag“ kommt, ist umstritten, vermutlich wird er jedoch seit dem späten 19. Jahrhundert in seiner heutigen Bedeutung verwendet. Eine Theorie legt nahe, dass das Wort aus der Theatersprache kommt und sich auf Umhänge bezieht, die über den Boden schleifen (englisch: to drag). Die Theorie, Shakespeare habe den Begriff erfunden, indem er bei seinen Stücken die Abkürzung d.r.a.g. für „dress resembling a girl“ an den Rand schrieb, um die häufigen Verkleidungsmomente zu markieren, gilt heute (leider!) als widerlegt.
Renelopé, die eigentlich René heißt und an der Uni Göttingen studiert hat, hat sich für unser Interview in Drag-Schale geschmissen: Sie trägt eine bestickte Robe, eine blonde Perücke und ein beeindruckendes Make-Up. Drei Stunden habe das gedauert, erzählt sie, das sei üblich für „full drag“, bei dem nicht nur Schminke aufgetragen, sondern auch der Körper durch Pads weiblicher gemacht wird. Wir haben vorher ausgemacht, dass das Interview in Drag stattfinden soll – denn Renelopé gebe ein anderes Interview als René. Drag Queen wurde Renelopé durch eine Wette darüber, ob Conchita Wurst den ESC gewinnt. Ob sie gewonnen oder verloren hat, weiß sie nicht mehr, das Ergebnis war jedoch, dass sie das erste Mal als Drag Queen performte. Danach trat sie in einer ThOP-Aufführung in Drag auf und so entstand Renelopé. Seitdem ist sie neben ihrem Beruf als Drag Queen aktiv, moderiert Events im ThOP oder den Göttinger Christopher Street Day. Nur von der Arbeit als Drag Queen leben könne man vielleicht anderswo, in Berlin oder Köln, aber nicht in Göttingen, dazu gebe es hier nicht die richtige Szene. „Göttingen ist einfach keine gute Party-Stadt“, sagt Renelopé. Ich kann dem nicht widersprechen.
Man dürfe sich selbst als Drag Queen nicht zu ernst nehmen, sagt Renelopé, außerdem brauche man eine gewisse Schmerztoleranz. Denn Drag ist anstrengend: die High Heels, die unbequeme Kleidung, die ständig notwendige Schlagfertigkeit während der Performance. Doch das zahlt sich aus: Renelopé empfiehlt jedem:r, sich einmal in Drag zu kleiden, denn man fühle sich darin präsenter, geradezu unantastbar. „Mit dem Make-Up kommt so ein Gott-Komplex“, sagt sie lachend. Außerdem gefallen ihr die Interaktionen mit Menschen, die sie als Drag Queen erlebt.
Drag wird leider nicht immer nur positiv aufgenommen. Gerade in konservativen und neurechten Kreisen gibt es Vorurteile oder offen queerfeindliche Ressentiments gegen Drag Queens und Kings. Für Renelopé ist Drag als Kunstform deshalb immer auch politisch: „Dadurch, dass man so laut aussieht, ist man als Drag Queen auch Repräsentantin und Aktivistin.“ In Göttingen habe sie noch nie schlechte Erfahrungen gemacht, das sei keine Pöbelstadt, zu bildungsbürgerlich seien die Leute hier dafür.
In den letzten Jahren ist Drag weiter in den Mainstream gewandert. RuPaul’s Drag Race hat durch seinen Erfolg dafür gesorgt, dass immer mehr Menschen sich mit Drag auseinandersetzen. Das wird nicht nur positiv bewertet: Besonders Mitglieder der LGBTQ-Community werfen RuPaul vor, die Subkultur Drag zu kommerzialisieren und ihr so ihre Subversität zu nehmen. ProSieben erntete vor zwei Jahren große Kritik, als der Sender einen Ableger von Drag Race produzierte, mit dem wenig inspirierten Namen Queen of Drags – und Heidi Klum als Hauptjurorin. Drag Queens wie Olivia Jones und Conchita Wurst traten darin nur am Rande auf. Renelopé sieht diese Entwicklungen gespalten: So wichtig eine Plattform für queere Geschichte(n) und Menschen sei, um Heteronormativität zu hinterfragen, so fragwürdig sei es, dann Heidi Klum in den Mittelpunkt einer Drag-Show zu stellen. Drag könne durch die Aufnahme in den Mainstream seine Kanten verlieren, um publikumstauglich zu werden.
Ob Mainstream oder nicht, die Kultur hat es in Lockdown-Zeiten nicht leicht. Die Pandemie hat auch für Renelopé die Arbeit als Drag Queen nicht einfacher gemacht: Ihre groß geplante Show „Drag am Stecken“ im ThOP musste abgesagt werden, bei der Moderation von Online-Events fehle ihr das Publikum. Sie hofft, dass dieses Jahr besser wird. Das tue ich auch: Eine der letzten Veranstaltungen, die ich vor der Pandemie besuchte, war eine Drag Show, an deren Glamour ich mich in den öden Lockdown-Monaten immer gern erinnere. Vielleicht wird die erste Veranstaltung danach ja ein Auftritt von Renelopé Fauxwell sein.