Stumpfe Erinnerung – Göttingens Geschichte der Zwangssterilisation

Vor dem Eingang der Deutschen Philologie in Göttingen hängt ein Messingschild, nicht größer als ein Buchdeckel. Es hängt dort seit 2011 und soll an die Menschen erinnern, die hier während des NS-Regimes zwangssterilisiert wurden. Hängen tut es, doch es erinnern sich nur wenige. Tag für Tag fahren Studierende dieselbe Straße entlang zur Uni, gehen dieselben Treppen zum Seminar hoch und öffnen dieselben Türen. Die Gedanken versinken im Alltag und widmen sich nur selten dem, was die Wände, die sie umgeben, schon alles gesehen haben. Dabei haben sie viel gesehen, gesehen und verborgen. Vor rund achtzig Jahren waren die Räume, in denen Dozenten heute über Goethe, Brecht und Schlegel sprechen, Teil der medizinischen Klinik der Universität und Ort der Zwangssterilisation. Heute erinnert nicht mehr viel daran, außer dem großen Schornstein, der das Gelände überragt. Er lieferte den Strom.

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Mit der Zeit sind die Medizinstudierenden umgezogen und Geisteswissenschaftler haben übernommen. Eine von ihnen ist Frauke Klinge, sie arbeitet für die Geschichtswerkstatt Göttingen. Zusammen mit Ute Kozniec bietet sie seit April 2016 Führungen über das Unigelände an. „Wir wollen damit vor allem die Studierenden erreichen, sich mehr mit der Geschichte der Gebäude zu befassen. Doch noch bestehen unsere Gruppen zum größten Teil aus älterem Publikum“, erzählt Frau Klinge. Nach Kriegsende waren fast sechsundsechzig Jahre vergangen, ehe die Gedenktafel errichtet wurde. Die späte Aufarbeitung lag auch am damaligen Klinikleiter Heinrich Martius.
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Martius durfte in der NS-Zeit trotz seiner jüdischen Wurzeln im Amt bleiben, da  er sich im 1. Weltkrieg verdient gemacht hatte. Unter seiner Leitung wurden über 1.600 Menschen zwangssterilisiert. 1.600 von 400.000 in der gesamten NS-Zeit. Göttingen war bereits vor den 30er Jahren sehr konservativ. Schon zu Kaiserzeiten blühten hier Studentenverbindungen und Arbeiterparteien waren kaum repräsentiert. 1932 erhielt die NSDAP 52 Prozent der Göttinger Wählerstimmen. Medizin war damals der wichtigste Wissenschaftsbereich der Uni und dominierte 1943 mit über der Hälfte der Studierenden, unter ihnen Wehrmachtssoldaten und Frauen. Der Krieg rief nach Ärzten.

Grund für die Sterilisationen war das 1933 beschlossene Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Das ist eine Idee, die nicht erst in der NS-Zeit entstanden ist. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es rassehygienische Überlegungen, die dem Sozialdarwinismus entsprangen. Die Diffamierung von „Behinderten und Asozialen“  führte in Schweden noch bis in die 70er Jahre zu Zwangssterilisierungen.  Im dritten Reich wurden unter anderem Schwachsinn, Schizophrenie, Blindheit und schwerer Alkoholismus als Erbkrankheiten gezählt. Dabei wurde von den Nationalsozialisten nicht zwischen angeboren und erblich unterschieden. „Diagnostiziert“ wurden die Behinderungen beim Amtsarzt, häufig durch einen vorhergehenden Fingerzeig des Nachbarn. Aus diesen Tagen stammen auch unsere heutigen Gesundheitsämter, die damals zur besseren Kontrolle eingeführt wurden.

Die Fälle der sterilisierten Frauen sind gut dokumentiert, während eine Vielzahl der Männerakten nicht wiedergefunden wurden. Von den Frauen kam etwa ein Viertel aus Heilanstalten. Die Eingriffe zur Sterilisierung waren unterschiedlich, häufig wurden die Eileiter durchtrennt oder entfernt, in seltenen Fällen auch die ganze Gebärmutter. Es wurde sogar mit Radiumeinlagen in der Vagina experimentiert. Eine Strafverfolgung der behandelnden Ärzte nach Kriegsende gab es nicht, da diese zu der Zeit nach geltendem Gesetz handelten. Heinrich Martius blieb Klinikleiter bis in die sechziger Jahre hinein.

Das kleine Schild am Eingang des Seminars trägt eine große Geschichte und trotzdem scheint es niemand zu bemerken. Doch Frauke Klinge ist optimistisch, denn ihr Projekt hat gerade erst begonnen und sie hat noch viel Energie, zu erzählen, was diese Wände schon alles gesehen haben.

Mehr Informationen gibt es auf www.geschichtswerkstatt-goettingen.de, hier gibt es auch einen Überblick der Führungen über das Universitätsgelände.

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