Noch etwas benebelt von der Vorstellung kämpfe ich mich zwischen den anderen Zuschauern zu Orthey durch. Die Regisseurin wird umarmt und nimmt Glückwünsche entgegen. Sie wirkt gelöst. Wie fühlt sie sich jetzt? „Erleichtert“, sagt sie. „Erleichtert, dass es gut beim Publikum angekommen ist.“ Es ist der 25. April, etwa 23 Uhr, und vor wenigen Momenten endete die Premiere von „Viel Lärm um nichts“ im ThOP mit minutenlangem Applaus. All das, was das Publikum heute zum ersten Mal bejubeln konnte, existierte bereits vor Monaten in Ortheys Kopf.
„Die Bretter, die die Welt bedeuten“ haben auf mich schon immer eine besondere Faszination ausgeübt. Große Tragödien, schräge Komödien, intime Kammerspiele, schillernde Musicals, alle sind für mich kleine Hintertüren aus der Realität, die nicht mal Netflix ersetzen könnte. Faszination für das Theater bedeutet für mich nämlich auch: Faszination für die Menschen, die hinter dem fertigen Produkt stehen. Was passiert auf der anderen Seite des Vorhangs? Beim Theater im OP renne ich mit meiner Neugier offene Türen ein. Das Theater im ehemaligen Anatomiehörsaal auf dem Hauptcampus lebt durch Laien und Freiwillige, die ihrer Kreativität auf der Bühne freien Lauf lassen wollen. Einer dieser kreativen Köpfe ist Orthey Stoll, ThOP-Mitarbeiterin, Studentin und Regisseurin.
Es ist Dezember. Vor den Fenstern ist es bereits seit einigen Stunden stockdunkel. Ich besuche eine Probe von Ortheys Stück. Wir befinden uns in einem Kellerraum auf dem Campus, der genau den Charme versprüht, den man von einem Kellerraum erwartet. In der Mitte des Raumes liegt eine Weichbodenmatte, die einen Brunnen darstellen soll. Rechts und links stehen je drei Stühle, die als Bänke fungieren. Heute wird eine Szene mit nur fünf Darstellern geprobt – in der endgültigen Produktion sind es insgesamt 23. Während wir noch auf Nachzügler warten, erklärt mir Orthey, wie das Bühnenbild später im ThOP aussehen wird. Die Arbeiten dafür laufen bereits. „Die Umbauten sind in die Handlung eingebaut“, erzählt sie. An einem Ende der Bühne sei ein kleiner Wassergraben unter den Bodendielen versteckt, am anderen Ende würden erklimmbare antike Säulen stehen. Hier hat sich schon jemand viele Gedanken gemacht. Oder richtiger: Orthey hat sich schon viele Gedanken gemacht. Mehr als vier Monate vor der Premiere scheint sie schon so, als hätte sie alles genau vor Augen.
Ihr Prozess für das Stück begann schon viel früher: Im Januar 2017 hatte sie sich um einen Spielzeitraum am ThOP beworben und den Zuschlag bekommen. Ihr Stück: „Viel Lärm um nichts“ von William Shakespeare. Es gibt Soldaten, Edelleute, trottelige Beamte und intrigante Bösewichte. Ein bisschen Hass, ein bisschen Verschwörung, ein bisschen mehr Liebe und am Ende alles ein bisschen unrealistisch. Für Orthey war es genau das richtige: „Es ist das bessere Romeo und Julia. Sie sind zwar alle nicht super helle, aber auch nicht alle super doof.“ Ihre Liebe zu „Viel Lärm um nichts“ begann mit der Hollywood-Verfilmung aus den 90er-Jahren. Ihre Liebe zum ThOP begann quasi schon vor Ortheys Geburt: Ihre Eltern hatten sich dort kennen gelernt. Als Kind wurde sie oft in den ehemaligen Anatomie-Hörsaal mitgenommen. Als Orthey ihr Studium der Archäologie und Kunstgeschichte anfing, war die Mitarbeit am ThOP also nicht abwegig. „Mein Interesse galt damals primär dem Spielen“, erinnert sich Orthey. Doch bei einer Produktion im Dezember 2016 ist sie dann „ins Organisatorische abgerutscht“. In einer Gemeinschaftsproduktion hat Orthey zunächst eine Tanzeinlage choreografiert, später hat sie die Regie der Szene übernommen. Nun leitet sie ihre erste eigene Produktion.
Die Probe beginnt mit dem Aufwärmprogramm. Die Schauspieler und ihre Regisseurin strecken sich, recken ihre Hände Richtung Zimmerdecke. „Wir greifen nach den Sternen. Oder Äpfeln. Oder Käse“, motiviert sie sich und ihr Ensemble. Ich bekomme heftige Flashbacks zu meinem Darstellendes-Spiel-Unterricht in der Schule. Mich wundert es also auch nicht, als sie schließlich zum Klatschkreis übergehen. „Bitte jetzt weiter in Konzentration bleiben“, sagt Orthey als die Gruppe in Lachen ausbricht. „Achtet ein bisschen mehr auf den Takt.“ Nach dem ersten Lesen der Szene gehen die Schauspieler auf ihre Positionen. Orthey steht im Raum, Text in der einen, Stift in der anderen Hand. Sie hat dunkelblonde Haare, trägt eine prägnante Brille und ein grünes Barett. Auf ihrem T-Shirt erkennt man die Cantina Band. Als Regisseurin bewegt sie sich durch die Szene, gibt lautlos Anweisungen, lässt ihre Schauspieler innehalten. „Jetzt umdrehen“ – „Hier musst du ein Stück näher an ihn rangehen“ – „Sag den Satz gerade noch ein paar Mal“ – „Das war zu sehr ‚Evil Mastermind‘, aber es geht in die richtige Richtung.“
Wenn ich Orthey beobachte, scheint sie ganz in ihrem Element zu sein. Eine berufliche Zukunft in der Theaterregie sieht sie trotzdem realistisch: „Als hauptberuflicher Regisseur hat man einen sehr harten Berufsalltag.“ Das schreckt sie allerdings nicht ab. Ganz abgesehen von der praktischen Theaterarbeit, hält das Engagment im ThOP dabei noch einige Lektionen für die Nicht-Theaterwelt bereit: Kreativität trifft Zeit-, Personal- und Finanzmanagement. Und das alles am lebenden Objekt. Und das alles neben Studium und/oder Beruf. „Man nimmt als Person aber noch viel mehr mit raus“, sagt Orthey. „Man lernt viel über sich selbst und seine Mitmenschen.“ Davon abgesehen können Studierende am ThOP sogar Credits erwerben. Sei es das Engagement in einem Stück, ein Maskenkurs, eine Einführung in die Lichttechnik oder ein Kurs zur Regiearbeit. Zum Abschluss winkt das Zertifikat „Theaterpraxis und Präsentation“.
Neue Probe, neues Jahr, neuer Kellerraum, die abendliche Dunkelheit ist geblieben. Dieses Mal trifft sich fast das gesamte Ensemble der Produktion in der Notaufnahme, dem Proberaum unterhalb des ThOP. Orthey steht wieder mittendrin. Ihr sind einige männliche Darsteller abgesprungen, aber Sorgen um ihr Stück macht sie sich nicht: „Ich bin voller Vertrauen in die Leute, die dabei sind und in die, die ich dazu holen werde.“ Momentan brauche sie einen stummen Nebendarsteller. Auf dem Plan steht heute die erste Szene des Stücks. Die haben sie lange nicht mehr geprobt. Wo befinden sich die Schauspieler auf der Bühne? Wie laufen die Soldaten auf? Wer hat wann ein Getränk in der Hand? Was machen die Statisten und alle ohne Sprechanteil in der Szene? Orthey weiß es. Sie sollen an ihren Gläsern nippen, wortlos ihre Lippen bewegen oder auf das Wortgefecht der beiden Hauptfiguren reagieren. Bei Unterbrechungen: warten, stehen, zuhören. Es ist nicht alles auf Anhieb perfekt. Trotzdem bleibt ein Chaos aus. Weniger ‚Uni-Gruppenarbeit‘ mehr konzentriertes Miteinander. „Wer kann noch?“, fragt Orthey nach dem zweiten Durchlauf der Szene. Die Frage scheint mir rhetorisch. „Nochmal!“, ruft sie. Dritter Durchlauf. Die Soldaten verschwinden wieder von der Spielfläche, die anderen Darsteller nehmen ihre Ausgangspositionen ein. Nochmal.
Die Dunkelheit weicht Sonnenstrahlen. Aus Januar wird April. „Viel Lärm um nichts“ tauscht die kargen Kellerräume gegen Bühne ein. Die Premiere soll in einer Woche stattfinden. Seit ein paar Tagen probt das Team auf der richtigen ThOP-Bühne. Die Kulisse ist fast fertig: Das Wasserbecken ist schon unter den Bodendielen verborgen, auf der anderen Seite der Bühne ragen antike Säulen (nein, kein Marmor, aber durchaus wandlungsfähiges PVC) empor, so wie Orthey es sich vorgestellt hat. „Das ist der aufregendste Prozess – wenn man auf der Bühne ist“, erzählt Orthey und führt mich durch ihre Kulisse. „Das Stück wird noch ein Stück besser.“ Trotzdem steigt mittlerweile die Anspannung: Es fehlen noch Kostüme. Ein paar der maßangefertigten Jacken sind noch nicht fertig. Äußerlich merkt man Orthey allerdings nichts an. Memo an mich selbst: Niemals gegen Orthey Poker spielen.
Die vergangenen Wochen waren eine lehrreiche Zeit für Orthey. Vor allem, was das Zwischenmenschliche anging: „Es war schwieriger als gedacht, die Balance dazwischen zu finden, fremde Ideen aufzunehmen und eigene Visionen durchzusetzen“, erzählt sie. Ihr war es während der Proben sehr wichtig, gut als Team zu arbeiten. Der Wechsel zwischen „Orthey als Freundin“ und „Orthey als Chefin“ sei dabei nicht immer gelungen. „Beim nächsten Mal werde ich versuchen, einen anderen Ansatz zu finden, um meine Autorität als Regisseurin klarer zu machen.“ Zudem musste Orthey lernen, dass auch ihre eigene Leistungsfähigkeit Grenzen hat. Vor allem in der Endphase einer Produktion häuft sich die Arbeit. „Ich darf auch Sachen abgeben, um mir den Rücken frei zu halten“, erklärt Orthey. Nichtsdestotrotz war sie in den letzten zwei Wochen jeden Tag im ThOP. „Ich bin nur zum schlafen zuhause.“
Trotz der Anstrengungen hat sie ihre nächste Produktion schon im Blick. November 2019 ist Orthey als nächste Spielzeit zugesagt worden. Welches Stück sie dann inszeniert, weiß sie allerdings noch nicht. Vielleicht ein Musical. „Irgendwann möchte ich auch gerne mal ein Drama machen“, erzählt Orthey. Mit einer Komödie zu arbeiten, sei jedoch angenehmer, als mit tragischen Stoffen. „Mit so einem Stückt läuft man eineinhalb Jahre herum und bewegt es in seinem Herzen.“ Doch jetzt konzentriert sie sich erstmal auf „Viel Lärm um nichts“. Auf meine Frage, was gerade richtig gut läuft, folgt Stille. Orthey muss überlegen. „Es läuft vieles gut, vieles ist aber noch ausbaufähig.“ Alle Schauspieler würden mittlerweile ihren Text können, das sei gut. Die Musik, drei Lieder, die extra für das Stück komponiert wurden, sei auch sehr schön. Um am Rest zu arbeiten, trifft sich das Ensemble jetzt zur nächsten Durchlaufprobe. Aber erstmal heißt es: Aufwärmen im Klatschkreis.
Generalprobe. Ich würde gerne von schwitzenden und heftig atmenden Schauspielern berichten, die ihre divenhafte Seite in ausschweifenden Schimpftiraden rauslassen. Oder von einem Bühnenbild, das im letzten Moment in sich zusammenbricht. Oder von einer Regisseurin, die sich kurzfristig in die Karibik abgesetzt hat. Das hätte Nachrichtenwert. Aber nein, ich muss mich auf die Wahrheit beschränken: Alles verläuft ruhig. So ruhig! Da ist kein Chaos, keine Hektik. Einige Darsteller befüllen das Wasserbecken auf der Bühne. Andere sitzen in der Maske und lassen sich schminken, manche legen sogar selbst Hand und Pinsel an ihren Kollegen an. Wie fühlt sich Orthey gerade? Überwiegt die Vorfreude oder die Aufregung? „Momentan habe ich nicht die Zeit, darüber nachzudenken.“ Wenn sie nicht gerade im ThOP ist, arbeitet sie zuhause an ihren Danksagungen und Regiegeschenken, Aufmerksamkeiten für alle Beteiligten der Produktion. Jetzt trifft sie Absprachen mit ihrer Regieassistentin und redet mit dem Techniker über die Musik für Einlass und Pause. Zwischendurch stellt sie fest, dass die schwarze Farbe auf den Bodendielen vor der Premiere noch einmal übergestrichen werden sollten.
Die Abläufe hinter den Kulissen sind heute die gleichen, wie an den regulären Spieltagen. Treffen ist um 18 Uhr, dann wird die Bühne vorbereitet, der Zuschauerraum wird geputzt, die Sektbar wird einsatzfähig gemacht und die Requisiten werden zurechtgelegt. Für all das ist das Ensemble während seiner Spielzeit verantwortlich. Wer fertig geschminkt und in Kostüm ist, muss sich selber beschäftigen. Den Leerlauf der Darsteller nutze ich, um mich mit ihnen zu unterhalten. Vielleicht finde ich doch jemanden, dem die Anspannung Schweißperlen auf die Stirn treibt (Spoiler: Ich habe niemanden gefunden. Das könnte aber auch am Theater-Make-Up gelegen haben). Darren zumindest ist entspannt. „Wenn morgen Leute da sind, und wir wissen, dass Leute da sind, wird es bestimmt etwas Anderes sein.“ Mit einer kleineren Rolle bei einer Produktion des English Drama Workshops hatte er erste Kontakte zum ThOP und zu Orthey geknüpft. Jetzt spielt er Borachio, einen der intriganten Bösewichte des Stücks.
Camilla, aka Zofe Margaret, wurde bei einem ThOP-Vorstellungsabend angeworben. Den Zeitaufwand hatte sie damals unterschätzt: „Als ich mich beworben habe, habe ich nur an die Vorstellungen gedacht. Nicht an die Proben vorher.“ Trotzdem hat ihr die Arbeit am Stück etwas gebracht. „Ich merke, dass ich selbstsicherer werde“, erzählt sie. Und so hätte sie auch die Möglichkeit gehabt, mehr über die Hintergründe einer Theaterproduktion zu lernen. Hat sie durch „Viel Lärm um nichts“ Blut geleckt? „Ich habe festgestellt, dass Theater einfach nicht mein Ding ist“, erklärt Camilla. Dafür sei der Probenprozess zu zeitintensiv und sie persönlich nicht perfektionistisch genug. Darren möchte erstmal nichts ausschließen und antwortet mit einem klaren „Jein“: vielleicht mit einem kleineren Ensemble. Allerdings fresse eine Produktion neben dem Studium wirklich Zeit. Die Proben für dieses Stück haben sich teilweise bis tief in die Nacht gezogen. Warum tut man sich die Arbeit am ThOP, parallel zu Studium und/oder Beruf überhaupt an? „Ich bin keine Rampensau, die unbedingt auf der Bühne stehen muss“, sagt Darren. Für ihn hänge es vor allem an den Leuten, die dabei sind: „Hinter der Bühne mit der Gruppe zusammen sein und rumblödeln“, das sei das Beste.
Und dafür hat er gleich noch Zeit, wenn auch möglichst lautlos. Denn ab 19.30 Uhr, nach dem üblichen Aufwärmprogramm, dürfen die Darsteller den Backstagebereich nicht mehr verlassen; dann öffnen sich die Türen für das Publikum. Das bedeutet für die Schauspieler auch: Leise sein! Und: Nach 19.30 Uhr nicht mehr auf die Toilette gehen – hinter den Kulissen gibt es nämlich keine. Der öffentliche Bereich ist jetzt tabu. Mit dem ersten Klingeln betreten auch die ersten Darsteller die Bühne. Um 20.15 Uhr wechselt das Licht, das Stück beginnt und das Warten, jedenfalls das auf den Zuschauerrängen, hat ein Ende.
Es ist Premierenabend. Der Zuschauerraum füllt sich zusehends. Es klingelt zum ersten Mal. Ich sitze im Publikum und frage mich, wie es Orthey jetzt geht. Am Eingang hatte sie mir noch einen Sitzkissen-Tipp für die ungemütlichen ThOP-Bänke gegeben. Monate von Proben und Organisation kommen jetzt zusammen und Orthey gibt Kissen-Ratschläge. Ich würde mittlerweile wahrscheinlich wimmernd in einer Ecke kauern.
Es klingelt zum zweiten Mal. Ich muss an meinen ersten Probenbesuch im Dezember zurückdenken. Die geheimnisvolle Welt des Theaters ist seitdem für mich etwas greifbarer geworden. Ich habe gesehen, wie viel Arbeit eine Theaterproduktion bedeutet. Und ich habe gesehen, wie viele motivierte Leute sich trotzdem in ungemütlichen Kellerräumen treffen, um ohne Bezahlung oder die Aussicht auf Ruhm und Ehre eine Vision zum Leben erwecken. Ich muss an die Darsteller denken, die jetzt hinter den Vorhängen auf ihre Auftritte warten und seit einer Dreiviertelstunde nicht mehr auf Toilette gehen dürfen. Ob sie immer noch so abgeklärt sind wie gestern? Oder ist es heute wirklich anders?
Dann klingelt es zum dritten Mal, das Licht im Saal erlischt und die Bühne ist hell erleuchtet. Meine Faszination mit dem Theater bleibt. Und meine Neugier wurde jetzt erst wirklich angestachelt.
Seid ihr auch neugierig geworden? Habt ihr Lust bekommen, mal wieder ins Theater zu gehen oder euch gleich selbst zu engagieren? Dann schaut mal auf der Website des Theaters im OP vorbei. „Viel Lärm um nichts“ läuft übrigens noch bis zum 12. Mai, mit Kulturticket sind die Vorstellungen kostenlos. Tickets gibt es online, via Kartentelefon oder täglich von 12 bis 14 Uhr am ThOP-Stand im Foyer der Z-Mensa.