Stille Nacht oder doch eher Last Christmas? In Dublin feiert man Weihnachten ein bisschen anders. Aber irgendwie auch nicht…
Ich mache einen Schritt zurück und schaue nach oben. Der Baum ist schief. Ich stehe im Herzen des Trinity College Campus und bewundere die fünf Meter hohe, hell blau erleuchtete Tanne. Ich neige mich ein bisschen nach links, jetzt sieht sie gerader aus. Aber trotzdem fehlt etwas. Sie ist … langweilig. Zuhause ist irgendwie mehr Lametta.
Andererseits scheint Langeweile ein Begriff zu sein, den die Iren tunlichst versuchen aus ihrem Weihnachtsvokabular zu streichen. Genauso wie Understatement und Besinnlichkeit. Ade, gemütliches Glühweinschlürfen auf dem Göttinger Weihnachtsmarkt und hallo, kreischende Weihnachtspullover und hyperaktive Strobo-Lichterketten. Und bei sechs Euro für eine Tasse Glühwein, kann man sich den ganzen Spaß noch nicht einmal vorweihnachtlich besinnlich trinken, ohne dass einem der tadelnde Geist der künftigen Monatsmiete erscheint. Weihnachten wird hier etwas anders begangen, als im Heimatland des anmutig flimmernden Adventskranz: Es ist greller, kitschiger und irgendwie noch Mariah-Carey-lastiger (man glaubt es kaum, aber es geht wirklich). Es scheint, als hätte man sich weniger an Stille Nacht, als vielmehr an der Coca-Cola-Weihnachts-Werbung orientiert.
Ich weiß, dass das alles wahrscheinlich ziemlich abwertend klingt, aber so ist es bei weitem nicht gemeint. Es ist einfach schwierig, Weihnachtsstimmung zu verbreiten, wenn Bäume noch Blüten tragen (nennt mich verrückt, aber wenn Mitte Dezember immer noch Leute in kurzen Sporthosen entspannt über den Campus schlendern, ist es doch mehr als ironisch, Lieder von Frosty dem Schneemann anzustimmen). Und so kommt es dann halt zur Überkompensation. Da verkleidet sich die Bibliotheksaufsicht auch schonmal als Weihnachtself (übrigens eine Idee, die ich der SUB wärmstens ans Herz legen möchte).
Das in Göttingen weit verbreitete Nach-der-Vorlesung-nur-noch-einmal-ganz-kurz-aber-wirklich-nur-ganz-kurz-über-den-Weihnachtsmarkt-Schlendern kann man indes in Dublin leider auch vergessen. Nicht nur, weil Weihnachtsmärkte hier ausschließlich am Wochenende und in geschlossenen Räumen stattfinden (und eine enttäuschend geringe Anzahl an Bratwurstbuden und Glühweinständen aufweisen), sondern auch, weil die Vorweihnachtszeit am Trinity College gleichzeitig bedeutet, dass es rapide auf das Semesterende zugeht. Das Trinity College in Dublin hat sich nämlich seine eigene Version aus dem traditionellen britschen Trimister- und dem Göttinger und restweltlichen Semester-System gebastelt, an dem es in seinem über 400jährigen Bestehen konsequent festhält (und sich sogar lustige Namen dafür für ausgedacht hat!): Vor Weihnachten endet der Michaelmas Term, Mitte Januar startet bereits der Hilary Term und von April bis Mai wird alles durch eine einmonatige Prüfungsphase im Trinity Term abgerundet. Und dann ist erstmal frei. Aber soweit denkt man gar nicht, wenn man die Nase in den Büchern hat, obwohl man sie lieber in eine Tüte Schmalzkuchen haben möchte. Schöne Abende auf dem Weihnachtsmarkt werden durch nervenaufreibende Nächte in der Bibliothek ersetzt. Erschreckend viele Essays müssen in einer erschreckend kurzen Zeit geschrieben und abgegeben werden, während die Sitzplätze in der Bibliothek nach dem Reise-nach-JerusalemBethlehem-System verlost werden. Ganz zu schweigen von den Weihnachtsfeiern der zahlreichen Student Societies (die auch mal beinhalten können, à la Polarexpress mitten in der Nacht in seinen Snoopy-Pyjamas in einem Zug zu einem unbekannten, myseriösen Ort gebracht zu werden), die es auch auf keinen Fall zu verpassen gilt. Verständlich, dass man da hin und wieder mal zum übermüdeten Grinch werden kann.
Doch auch hier kommen die Gefühle auf, die auch Göttinger Studenten nur allzu gut kennen: Die Vorfreude darauf, zum 14. Mal Kevin allein zu Haus sehen zu können (dieses Jahr übrigens auch auf Netflix), das tiefe Verlangen danach, eine Woche lang von Mutti verwöhnt zu werden (obwohl man es niemals zugeben würde, schließlich ist man ja schon total erwachsen und so), und der Stress, den Freunden/Geschwistern/Verwandten nach der Socken-Blamage im letzten Jahr das perfekte Weihnachtsgeschenk zu machen. Vielleicht ein nettes Duschgel. Oder eine Duftkerze.
Und für mich persönlich kommt noch ein ganz anderes Gefühl hinzu: der Abschiedsschmerz. Denn Driving home for Christmas bedeutet für mich, dass mein Erasmus-Semester bald zu Ende ist. Einige meiner Freunde können es gar nicht erwarten, das heimische Lebkuchenhaus zu plündern; andere können gar nicht genug von all dem knochenbrechischem Kopfsteinpflaster, der überall auf dem Campus liegt, bekommen. Und ich? Ich bin irgendwo dazwischen. Bisher hat mich die Erkenntnis, dass mein Leben hier in Irland demnächst für immer vorbei sein wird, noch nicht wirklich erreicht. Ich bin wahrscheinlich viel zu sehr damit beschäftigt, den Last Christmas-Dauerohrwurm aus meinem Kopf zu bekommen. Aber natürlich ist es traurig, von Menschen und Dingen Abschied zu nehmen, die man im Laufe der Zeit sehr liebgewonnen hat. Aber die warten auch zuhause auf mich. Und unterm Weihnachtsbaum mit der Familie ist dann wahrscheinlich erstmal alles andere vergessen. Sogar die Lametta-Frage.